BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG normiert einen staatshaftungsrechtlichen, verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruch sui generis, der Verfahrensbeteiligten das Recht auf eine angemessene Entschädigung für Nachteile gewährt, die infolge einer unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens eingetreten sind. Anders als bei einem Amtshaftungsanspruch wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen soll durch die Gewährung einer Entschädigung kein schuldhaftes Fehlverhalten staatlicher Stellen mit spürbaren Auswirkungen für den ersatzpflichtigen Staat sanktioniert ("bestraft") werden (Abgrenzung zu dem Senatsurteil vom 1. Oktober 2009 - III ZR 18/09, BGHZ 182, 301).
2. Die Aufrechnung gegenüber einem Entschädigungsanspruch wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens mit einer Kostenforderung des Staates aus einem früheren Strafverfahren ist - nach rechtskräftiger Entscheidung über die Entschädigungsklage - grundsätzlich zulässig. Weder stellt sie eine unzulässige Rechtsausübung (§ 242 BGB) dar noch folgt ein Aufrechnungsverbot aus § 394 Satz 1 BGB, § 851 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 399 Alt. 1 BGB beziehungsweise § 198 Abs. 5 Satz 3 GVG (Fortführung des Senatsurteils vom 12. November 2015 - III ZR 204/15, BGHZ 207, 365).
BGH, Urteil vom 7. November 2019 - III ZR 17/19 - OLG
Karlsruhe
Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die
mündliche Verhandlung vom 7. November 2019 durch den Vorsitzenden Richter Dr.
Herrmann und die Richter Tombrink, Dr. Remmert,
Reiter und Dr. Kessen
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des
Oberlandesgerichts Karlsruhe - 16. Zivilsenat - vom 18. Januar 2019 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Oberlandesgericht
zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
1
Die Parteien streiten im Rahmen einer
Vollstreckungsabwehrklage über die Zulässigkeit der Aufrechnung des klagenden
Landes gegen einen Entschädigungsanspruch des Beklagten wegen überlanger Dauer
eines Gerichtsverfahrens.
2
Mit rechtskräftigem Urteil vom 12. Januar 2018 sprach das
Oberlandesgericht K. dem Beklagten wegen unangemessener Dauer eines
vollstreckungsrechtlichen Verfahrens vor dem Amtsgericht P. eine Entschädigung
für immaterielle Nachteile in Höhe von 4.800 € zu. Aus diesem Urteil betreibt
der Beklagte die Zwangsvollstreckung. Das klagende Land hat gegen den Beklagten
eine festgesetzte Kostenerstattungsforderung in Höhe von 27.739,52 € aus einem
am 10. Januar 2013 rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren, in dem der
Beklagte zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, die er in der
Folgezeit verbüßte.
3
Mit außergerichtlichem Schreiben vom 14. März 2018 forderte
der vorinstanzliche Prozessbevollmächtigte des Beklagten, an den dieser die
Entschädigungsforderung zur Sicherung offener Honoraransprüche abgetreten
hatte, den Kläger zur Zahlung der Entschädigungssumme auf sein Anderkonto auf.
Daraufhin erklärte der Kläger mit Schreiben der Landesoberkasse vom 9. April
2018 gegenüber dem neuen Forderungsinhaber die Aufrechnung mit dem im
Strafverfahren festgesetzten Kostenerstattungsanspruch. Gegenüber dem Beklagten
wurde die Aufrechnung vorsorglich mit Anwaltsschreiben vom 30. April 2018 und
15. Mai 2018 wiederholt.
4
Der Kläger hat im Wege der Vollstreckungsabwehrklage
beantragt, die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des Oberlandesgerichts K. vom
12. Januar 2018 für unzulässig zu erklären und den Beklagten zur Herausgabe der
ihm erteilten vollstreckbaren Urteilsausfertigung zu verurteilen, da die
titulierte Forderung durch Aufrechnung erloschen sei.
5
Der Beklagte hält die Aufrechnung für unzulässig und hat
seinerseits hilfsweise gegen die Kostenerstattungsforderung des Klägers mit
behaupteten Amtshaftungsansprüchen aus dem strafprozessualen
Kostenfestsetzungsverfahren aufgerechnet. Zudem hat er die Einrede der
Verjährung gegen die Forderung des Klägers erhoben.
6
Das Oberlandesgericht hat die Klage abgewiesen und die
Revision zugelassen. Der Kläger verfolgt mit der Revision seine
erstinstanzlichen Anträge weiter.
Entscheidungsgründe:
7
Die zulässige Revision des Klägers hat Erfolg. Sie führt zur
Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das
Oberlandesgericht.
I.
8
Das Oberlandesgericht (BeckRS 2019, 538) hat zur Begründung
seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
9
Die Vollstreckungsabwehrklage sei zulässig, aber
unbegründet. Dass der Beklagte die titulierte Forderung an seinen
Prozessbevollmächtigten abgetreten habe, sei unschädlich. Denn auch im Fall
einer wirksamen Abtretung bleibe ein Titelgläubiger aktivlegitimiert, die
Forderung im Wege der Zwangsvollstreckung durchzusetzen, wenn er - wie der
Beklagte - auf Grund einer Einziehungsermächtigung befugt sei, Leistung an sich
zu verlangen.
10
Die Aufrechnung des Klägers mit der Kostenforderung aus dem
gegen den Beklagten geführten Strafverfahren sei treuwidrig (§ 242 BGB). Nach
der höchstrichterlichen Rechtsprechung (Hinweis auf Senat, Urteil vom 1.
Oktober 2009 - III ZR 18/09, BGHZ 182, 301) stelle die Aufrechnung mit einem
Kostenerstattungsanspruch des Staates gegenüber dem Amtshaftungsanspruch eines
Strafgefangenen wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen eine unzulässige
Rechtsausübung dar. Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (Hinweis auf
Urteil vom 24. März 2011 - IX ZR 180/10, BGHZ 189, 65) habe zudem eine vom
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einem Individualbeschwerdeführer
zugesprochene immaterielle Entschädigung nach Art. 41 EMRK wegen überlanger
Verfahrensdauer (besonders schwerer Verstoß gegen Art. 6 EMRK) für nicht
abtretbar und unpfändbar gehalten.
11
Unter Abwägung aller Gesichtspunkte sei eine Aufrechnung mit
vor dem Entschädigungsanspruch entstandenen Kostenforderungen aus einem gegen
den Entschädigungsgläubiger geführten Strafverfahren unbillig. Dem stehe
bereits die ratio des § 198 GVG entgegen. Die
Vorschrift sei eine - notwendige - Reaktion des deutschen Gesetzgebers auf Art.
6 Abs. 1 EMRK und dessen Ausprägung in der Rechtsprechung des EGMR. Sie
normiere nicht nur einen Genugtuungsanspruch, sondern verfolge auch Sanktions-
und Präventionszwecke. Diese ratio des § 198 GVG
liefe jedoch ins Leere, wenn dem Entschädigungsschuldner nach rechtskräftigem
Abschluss des Verfahrens ohne weiteres die Aufrechnung mit Gegenforderungen
zustünde. Allein der Umstand, dass § 198 GVG verschuldensunabhängig sei, schließe
den Einwand der Treuwidrigkeit nicht aus.
12
Zu berücksichtigen sei vorliegend maßgeblich, dass der
Kläger mit einem auf Grund der Vermögenslosigkeit des Beklagten nicht
werthaltigen Kostenerstattungsanspruch aus einem vor dem Entschädigungsverfahren
liegenden Strafverfahren aufrechne. Die Aufrechnungsmöglichkeit mit einer
solchen Kostenforderung hätte zur Folge, dass der Anspruch des (mittellosen)
Strafgefangenen aus § 198 GVG ins Leere ginge. Bei Zulassung der Aufrechnung
durch den Entschädigungsschuldner mit einer ansonsten nicht durchsetzbaren
Kostenforderung würde sich der Entschädigungsanspruch in der Feststellung einer
unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens erschöpfen. Dass dies nicht
ausreichend sei, sei indessen im Entschädigungsprozess festgestellt worden.
II.
13
Diese Ausführungen halten der rechtlichen Überprüfung nicht
stand.
14
Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts ist die
Aufrechnung des klagenden Landes nicht wegen Treuwidrigkeit (§ 242 BGB)
unzulässig. Nach wertender Betrachtung aller Umstände besteht keine
Veranlassung, von einem rechtsmissbräuchlichen staatlichen Verhalten
auszugehen. Ein Aufrechnungsverbot folgt auch nicht aus § 394 Satz 1 BGB, § 851
Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 399 Alt. 1 BGB beziehungsweise § 198 Abs. 5 Satz
3 GVG.
15
1. Nach § 242 BGB ist eine Aufrechnung ausgeschlossen, wenn
die Natur der Rechtsbeziehung oder der Zweck der geschuldeten Leistung eine
Erfüllung im Wege der Aufrechnung als mit Treu und Glauben unvereinbar
erscheinen lassen (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Urteile
vom 24. Juni 1985 - III ZR 219/83, BGHZ 95, 109, 113 und vom 12. November 2015
- III ZR 204/15, BGHZ 207, 365 Rn. 12; BGH, Urteile vom 22. März 2011 - II ZR
271/08, BGHZ 189, 45 Rn. 27 und vom 24. Juli 2012 - II ZR 297/11, BGHZ 194, 180
Rn. 33). Diese Voraussetzungen liegen hier jedoch nicht vor.
16
a) Das vom Oberlandesgericht zur Begründung seiner
Auffassung herangezogene Urteil des Senats vom 1. Oktober 2009 (III ZR 18/09,
BGHZ 182, 301) betrifft einen anderen Sachverhalt und andere Rechtsgrundlagen
und ist deshalb wertungsmäßig nicht auf die vorliegende Fallgestaltung
übertragbar.
17
aa) Der Senat hat damals entschieden, dass es der
Justizverwaltung unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242
BGB) grundsätzlich verwehrt ist, gegenüber dem Anspruch eines Strafgefangenen
auf Geldentschädigung wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen nach § 839 BGB
in Verbindung mit Art. 34 GG mit einer Gegenforderung auf Erstattung offener
Kosten des der Haft zugrunde liegenden Strafverfahrens aufzurechnen. Dabei hat
der Senat auf die Funktion und den Zweck des Geldentschädigungsanspruchs wegen
menschenunwürdiger Haftbedingungen und auf die Eigenart des zwischen den
Beteiligten bestehenden Rechtsverhältnisses abgestellt.
18
Nach der Senatsrechtsprechung steht dem Häftling unter dem
Gesichtspunkt der Amtshaftung ein Anspruch auf Geldentschädigung für
immaterielle Schäden infolge menschenunwürdiger Haftbedingungen zu, wenn die
damit verbundene Beeinträchtigung ein Mindestmaß an Schwere erreicht hat und
nicht in anderer Weise befriedigend ausgeglichen werden kann. Der Anspruch auf
Geldentschädigung gründet auf dem Schutzauftrag der Grundrechte aus Art. 1 Abs.
1 und Art. 2 Abs. 1 GG. Er dient der Genugtuung des Verletzten sowie der wirksamen
Sanktion und Prävention - in dem Sinne, dass der Staat dazu angehalten wird,
menschenunwürdige Haftbedingungen von vornherein zu vermeiden oder aber
(zumindest) alsbald zu beseitigen. Damit diese Funktionen Wirkung entfalten
können, muss der Geldentschädigungsanspruch für den ersatzpflichtigen Staat
spürbare Auswirkungen haben. Daran würde es vielfach fehlen, wenn die Erfüllung
des Anspruchs im Wege der Aufrechnung mit einer Gegenforderung auf Erstattung
der offenen - und vom (vermögenslosen) Häftling meist nicht beizutreibenden -
Strafverfahrenskosten herbeigeführt werden könnte. Insoweit liegt die Besorgnis
nicht fern, dass der ersatzpflichtige Staat aufgetretene menschenunwürdige
Haftbedingungen nicht so zügig wie geboten beseitigt, sondern aus fiskalischen
Gründen längere Zeit hinnimmt und hierdurch nicht nur die Genugtuungs- und
Sanktionsfunktion, sondern auch die Präventivfunktion des Anspruchs
beeinträchtigt wird. Die Pflicht, den Häftling menschenwürdig unterzubringen,
gehört aber zu den Kardinalpflichten der Justizvollzugsorgane. Der aus der
Verletzung dieser Pflicht sich ergebende Anspruch erfordert eine schwerwiegende
Beeinträchtigung des Betroffenen, die weit über die mit der Haft als solcher
verbundenen Belastungen hinausgeht. Im Allgemeinen liegt bei der gebotenen
wertenden Gesamtschau dem Anspruch auch ein erhebliches Verschulden der
Staatsorgane zugrunde, das durchaus als vorsatznah einzustufen ist. Dies alles
rechtfertigt es, die Aufrechnung als unzulässige Rechtsausübung anzusehen (Senat
aaO Rn. 10 ff).
19
bb) Der eine schuldhafte Amtspflichtverletzung
voraussetzende Schadensersatzanspruch wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen
(§ 839 BGB, Art. 34 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 2
Abs. 1 GG) ist mit dem verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruch für
immaterielle Nachteile bei überlanger Dauer eines Gerichtsverfahrens (§ 198
Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 GVG) nicht vergleichbar. Der Anspruch aus § 198 Abs. 1
GVG hat keinen Sanktionscharakter im Hinblick auf ein schuldhaftes
(„vorsatznahes“) Fehlverhalten des Staates. Auch der beim Schadensersatz wegen
menschenunwürdiger Haftbedingungen wesentliche Präventionszweck ist hier nicht
in vergleichbarer Weise betroffen.
20
(1) § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG begründet einen
Entschädigungsanspruch gegen den Staat wegen überlanger Dauer eines
gerichtlichen Verfahrens und umfasst sowohl einen Ersatz für materielle
Nachteile als auch einen Ausgleich für immaterielle Nachteile. Ergänzend
normiert § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG die widerlegbare Vermutung, dass im Fall einer
unangemessenen Verfahrensdauer von einem Nachteil, der nicht Vermögensnachteil
ist, ausgegangen werden muss. § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG bestimmt, dass eine
Entschädigung für immaterielle Nachteile ausgeschlossen ist, soweit nach den
Einzelfallumständen eine Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist. Die
Frage der Bemessung der Entschädigung für immaterielle Nachteile wird in § 198
Abs. 2 Satz 3 GVG durch Pauschalierung gelöst (1.200 € für jedes Jahr der
Verzögerung), wobei Satz 4 die Möglichkeit eröffnet, in Ausnahmefällen von der
Pauschale nach oben oder unten abzuweichen. Zwingende Voraussetzung für die
Gewährung einer Entschädigung ist, dass der Betroffene in dem Verfahren, für
dessen Dauer er entschädigt werden möchte, eine Verzögerungsrüge erhoben hat (§
198 Abs. 3 Satz 1 GVG). § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG trägt der Tatsache Rechnung,
dass der Anspruch auf ein zügiges Verfahren schon vor dem rechtskräftigen
Verfahrensabschluss verletzt sein kann und lässt deshalb - nach Ablauf einer
Wartefrist - die Erhebung einer Entschädigungsklage noch während des
Ausgangsverfahrens zu.
21
(2) Diese Regelung, die am 3. Dezember 2011 in Kraft
getreten ist (gemäß Art. 24 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen
Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24. November
2011 [ÜGRG], BGBl. I 2302), ist vor dem Hintergrund
der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu
sehen. Danach kann bei überlanger Dauer gerichtlicher Verfahren neben dem in
Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Recht auf ein faires und zügiges Verfahren auch
das in Art. 13 EMRK verbürgte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf verletzt
sein (EGMR, NJW 2001, 2694 Rn. 146 ff und 151 ff - Kudla/Polen). Der
innerstaatliche Rechtsbehelf bei überlanger Verfahrensdauer muss, um wirksam im
Sinne des Art. 13 EMRK zu sein, geeignet sein, entweder die befassten Gerichte
zu einer schnelleren Entscheidungsfindung zu veranlassen (präventive Wirkung)
oder dem Rechtsuchenden für die bereits entstandenen Verzögerungen eine
angemessene Entschädigung - insbesondere auch für immaterielle Nachteile - zu
gewähren (kompensatorische Wirkung; EGMR, NJW 2006, 2389 Rn. 99 -
Sürmeli/Deutschland). Der deutsche Gesetzgeber hat sich, wie die Regelung der
§§ 198 ff GVG zeigt, dafür entschieden, bei überlanger Verfahrensdauer mit
einer nachträglichen Kompensation statt mit einem auf
Beschleunigung gerichteten Rechtsbehelf zu reagieren. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG
normiert einen staatshaftungsrechtlichen, verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruch
sui generis, der Verfahrensbeteiligten das Recht auf eine angemessene
Entschädigung für Nachteile gewährt, die infolge einer unangemessenen Dauer
eines Gerichtsverfahrens eingetreten sind (Begründung zum Entwurf der
Bundesregierung eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen
Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, BT-Drucks.
17/3802, S. 15 f, 19; siehe auch Steinbeiß-Winkelmann in
Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, Einf.
Rn. 212 ff; Ott aaO § 198 GVG Rn. 3). Diese
Kompensations-/Wiedergutmachungslösung wird ergänzt durch spezial- und
generalpräventive Regelungselemente, die beschleunigend wirken sollen, aber
keinen eigenen präventiven Rechtsbehelf mit zwingenden Beschleunigungsfolgen
darstellen. Wichtigstes Regelungselement mit dem Ziel einer konkret-präventiven
Beschleunigungswirkung ist die Festlegung einer Rügeobliegenheit des
Betroffenen beim iudex a quo (Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 GVG). Ein von
überlanger Verfahrensdauer Betroffener muss zunächst beim Ausgangsgericht die
Dauer des Verfahrens rügen, bevor er beim Entschädigungsgericht einen Anspruch
geltend machen kann. Darüber hinaus kann bereits die bloße Möglichkeit einer
Entschädigungsklage die Gerichte generell-präventiv veranlassen,
Beschleunigungsmöglichkeiten zu nutzen und das Verfahren zureichend zu fördern.
Schließlich können konkret-präventive Effekte dadurch erzielt werden, dass die
Entschädigungsklage nach § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG noch während des laufenden Ausgangsverfahrens
erhoben wird (BTDrucks. 17/3802, S. 41;
Steinbeiß-Winkelmann aaO Einf. Rn. 218 ff, 230 ff).
22
Der für einen Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 Satz
1 GVG maßgebende Haftungsgrund ist allein die Verletzung des Anspruchs eines
Verfahrensbeteiligten aus Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG und aus Art. 6 Abs.
1 EMRK auf Entscheidung seines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit
(Senat, Urteil vom 23. Januar 2014 - III ZR 37/13, BGHZ 200, 20 Rn. 25 m.
zahlr. wN; BT-Drucks. 17/3802, S. 18). Auf ein
schuldhaft pflichtwidriges Verhalten des mit der Sache befassten Richters oder
eines sonstigen Angehörigen der Justiz kommt es - anders als bei der
Amtshaftung - nicht an. Die Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer
impliziert dementsprechend für sich allein auch keinen Schuldvorwurf
(BT-Drucks. 17/3802, S. 19).
23
(3) Danach kann kein Zweifel daran bestehen, dass durch die
Gewährung eines Entschädigungsanspruchs bei überlanger Verfahrensdauer - anders
als bei einem Amtshaftungsanspruch wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen -
kein schuldhaftes Fehlverhalten staatlicher Stellen mit „spürbaren
Auswirkungen“ für den ersatzpflichtigen Staat sanktioniert („bestraft“) werden
soll. Dementsprechend ist im Gesetzgebungsverfahren der Antrag der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die Pauschale für immaterielle Nachteile von 1.200 € pro
Jahr auf das Zehnfache heraufzusetzen, abgelehnt worden (Bericht des
Rechtsausschusses vom 28. September 2011, BT-Drucks. 17/7217, S. 24 f).
24
Ungeachtet dessen liegt dem Anspruch aus § 198 Abs. 1 Satz 1
GVG in der Praxis regelmäßig auch kein vorsatznahes Verschulden der
verantwortlichen Staatsorgane zugrunde, wie es im Allgemeinen beim
Amtshaftungsanspruch wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen der Fall ist (vgl.
Senat, Urteil vom 1. Oktober 2009 aaO Rn. 15). Eine unangemessene
Verfahrensdauer kann zwar - worauf der Beklagte zu Recht hinweist - auch auf
strukturellen Problemen innerhalb des Verantwortungsbereichs des Staates
beruhen (BTDrucks. 17/3802, S. 16, 19). In den
bislang vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fällen sind jedoch solche Mängel in
der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht erkennbar geworden (Reiter, NJW 2015,
2554, 2555). Auch im vorliegenden Fall ergeben sich aus dem
Entschädigungsurteil des Oberlandesgerichts K. vom 12. Januar 2018 keine
Anhaltspunkte für ein Organisationsverschulden des Staates.
25
Soweit der Beklagte unter Berufung auf das Urteil des EGMR
vom 2. September 2010 (NJW 2010, 3355 Rn. 69 ff - Rumpf/Deutschland) meint, der
Gerichtshof sehe in der überlangen Dauer gerichtlicher Verfahren in Deutschland
einen allgemeinen strukturellen Mangel, übersieht er, dass der Gerichtshof
lediglich das Fehlen einer effektiven Regelung in Deutschland trotz der bereits
seit dem Sürmeli-Urteil aus dem Jahr 2006 (EGMR, NJW 2006, 2389) feststehenden
Verpflichtung zur zeitnahen Einführung eines Rechtsbehelfs bei überlangen
Verfahren als systematisches Problem bezeichnet hat (NJW 2010, 3355 Rn. 63, 71
ff). Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen
Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24. November
2011 (ÜGRG) ist diese Rechtsschutzlücke jedoch
geschlossen worden. Der EGMR hat das ÜGRG - mit
Ausnahme von familiengerichtlichen Verfahren über das Umgangsrecht (vgl. EGMR,
NJW 2015, 1433 Rn. 137 ff - Kuppinger/Deutschland) - als wirksame Beschwerde im
Sinne des Art. 13 EMRK inzwischen ausdrücklich anerkannt (EGMR, NVwZ 2013, 47
Rn. 40; EGMR, NJW 2014, 3083, 3084; siehe auch Roller, DRiZ 2015, 66, 68).
26
(4) Der bei einem Schadensersatz wegen menschenunwürdiger
Haftbedingungen wesentliche Präventionszweck hat im Rahmen der §§ 198 ff GVG
erheblich geringeres Gewicht. Denn der Gesetzgeber hat die kompensatorische
Wirkung der Entschädigungsregelung - wie oben dargelegt - deutlich in den
Vordergrund gestellt und die Entschädigungslösung lediglich mit präventiven Elementen
„angereichert“, ohne jedoch einen „echten“ präventiven Rechtsbehelf zu schaffen
(BT-Drucks. 17/3802, S. 16, 43). Die auf § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG gestützte
Entschädigungsklage zielt trotz ihrer generell-präventiven Wirkung, die
Gerichte zur Nutzung von Beschleunigungsmöglichkeiten anzuhalten, in erster
Linie auf die Kompensation bereits eingetretener Nachteile ab (Senat, Urteil
vom 23. Januar 2014 - III ZR 37/13, BGHZ 200, 20 Rn. 32; BT-Drucks. 17/3802, S.
15 f).
27
(5) Nach alledem unterscheidet sich der Anspruch aus § 198
Abs. 1 Satz 1 GVG hinsichtlich seiner vorrangigen Zweckbestimmung
(Kompensation) nicht maßgeblich von anderen Ansprüchen auf Ersatz immaterieller
Schäden, denen eine Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion zukommt, ohne dass sich
allein daraus ein Aufrechnungsverbot nach § 242 BGB ergibt (z.B. § 253 Abs. 2
BGB). Vielmehr sind derartige Ansprüche grundsätzlich übertragbar sowie
pfändbar, und es kann gegen sie aufgerechnet werden (Senat, Urteil vom 12.
November 2015 - III ZR 204/15, BGHZ 207, 365 Rn. 16, 24 zur Zulässigkeit der
Aufrechnung gegen einen Schadensersatzanspruch aus Art. 5 Abs. 5 EMRK; BGH,
Urteil vom 24. März 2011 - IX ZR 180/10, BGHZ 189, 65 Rn. 33; siehe auch
Palandt/Grüneberg, BGB, 78. Aufl., § 253 Rn. 22).
28
b) Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts wird im
vorliegenden Fall der Kompensationszweck des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG durch die
Zulassung der Aufrechnung nicht verfehlt.
29
aa) Die Aufrechnung des Klägers bewirkt, dass der Beklagte,
soweit Entschädigungs- und Kostenforderung sich decken, in dieser Höhe von
eigenen Verbindlichkeiten befreit wird (§§ 387, 389 BGB). Dass sich die
Aufrechnung mit einer ansonsten nicht oder nur schwer realisierbaren Forderung
im Einzelfall gleichsam nur „buchhalterisch“ auswirken kann (vgl. Senat, Urteil
vom 1. Oktober 2009 - III ZR 18/09, BGHZ 182, 301 Rn. 12), steht der
Wirksamkeit der Aufrechnung grundsätzlich nicht entgegen. Denn der
Aufrechnungsgegner wird jedenfalls durch das Freiwerden von einer
Verbindlichkeit entlastet (vgl. BGH, Urteil vom 8. Mai 2014 - IX ZR 118/12,
BGHZ 201, 121 Rn. 13 [Aufrechnung mit uneinbringlicher Masseforderung]; vgl.
auch Staudinger/Chiusi, BGB, Neubearbeitung 2013, §
516 Rn. 265; BeckOK ErbStG/Felten, § 7 Rn. 115 [Stand: 1. Oktober 2019],
jeweils Verzicht auf eine uneinbringliche Forderung als Bereicherung). Durch
die vom Oberlandesgericht angenommene Vermögenslosigkeit des Beklagten wird
daher die Zulässigkeit der Aufrechnung grundsätzlich nicht in Frage gestellt.
Abweichendes folgt auch nicht aus dem dem
Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG zugrunde liegenden
Kompensationszweck. Dieser verlangt - wie oben dargelegt - nicht, dass die
Entschädigungszahlung für den ersatzpflichtigen Staat spürbare Auswirkungen im
Sinne eines echten Vermögensopfers hat, wie dies bei einem Amtshaftungsanspruch
wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen der Fall ist. Dabei muss auch in den
Blick genommen werden, dass durch die erfolgreiche Aufrechnung die in den
Entscheidungsgründen getroffene Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass
die Verfahrensdauer unangemessen lang war, nicht tangiert wird, so dass
insoweit jedenfalls ein Kompensationseffekt eintritt (vgl. § 198 Abs. 2 Satz 2
GVG und Ott aaO § 198 GVG Rn. 159 zu den verschiedenen Formen einer „Wiedergutmachung
auf andere Weise“).
30
Die Revision weist darüber hinaus zu Recht darauf hin, dass
die von überlanger Verfahrensdauer Betroffenen nicht typischerweise
vermögenslos sind, so dass gegen sie gerichtete staatliche
Kostenerstattungsansprüche nicht von vornherein wertlos sind. Auch kann
entgegen der Auffassung des Beklagten nicht generell von der Uneinbringlichkeit
staatlicher Kostenforderungen aus Strafverfahren ausgegangen werden.
31
bb) Aus dem vom Oberlandesgericht in Bezug genommenen Urteil
des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 24. März 2011 (IX ZR 180/10,
BGHZ 189, 65) ergibt sich nicht, dass der Kompensationszweck des § 198 GVG
verfehlt wird, wenn die Entschädigung nicht ausschließlich dem Betroffenen
persönlich zugute kommt, weil der Staat diesen
Anspruch pfändet oder gegen ihn aufrechnet. Es besteht kein Aufrechnungsverbot
nach § 394 Satz 1 BGB, § 851 Abs. 1 ZPO, § 399 Alt. 1 BGB.
32
(1) Gegenstand des Urteils vom 24. März 2011 war eine vom
EGMR im Verfahren der Individualbeschwerde (Art. 34 EMRK) nach Art. 41 EMRK
wegen überlanger Dauer eines die wirtschaftliche Existenz des Beschwerdeführers
gefährdenden Amtshaftungsprozesses zugebilligte hohe Geldentschädigung für den
erlittenen immateriellen Schaden (Urteil vom 5. Oktober 2006, EuGRZ 2007, 268). Der IX. Zivilsenat hat die dem
Beschwerdeführer vom EGMR zuerkannte Entschädigung als unpfändbar (§ 851 Abs. 1
ZPO, § 399 Alt. 1 BGB) eingestuft, mit der Folge, dass diese nach Eröffnung des
Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Beschwerdeführers gemäß § 36 Abs. 1
Satz 1 InsO nicht in die Insolvenzmasse fiel. Hierbei hat der IX. Zivilsenat
(aaO Rn. 24) zunächst Bezug genommen auf die Rechtsprechung des EGMR (NJW 2001,
56 Rn. 133), wonach die im Verfahren nach Art. 41 EMRK persönlich zuerkannte
Entschädigung unpfändbar sein solle, was aber nach dem jeweiligen nationalen
Recht zu beurteilen sei. Fließe die Entschädigung dem schädigenden Staat zu und
sei dieser zugleich Schuldner und Gläubiger der Entschädigung, werde der Zweck
der Entschädigung für immaterielle Schäden verfehlt und das System des Art. 41
EMRK pervertiert. Daran anknüpfend ist der IX. Zivilsenat (aaO Rn. 41 ff) davon
ausgegangen, dass die dem Beschwerdeführer zuerkannte Entschädigung derart mit
seiner Person verknüpft sei, dass der vom EGMR bezweckte persönliche Ausgleich
der langjährigen Beeinträchtigungen und der dadurch bewirkten schwerwiegenden
Rechtsbeeinträchtigung nicht erreicht werden könne, wenn der Ausgleichsanspruch
in die Insolvenzmasse falle. Die Entschädigung habe unter dem Gesichtspunkt der
Billigkeit ausdrücklich dem Schuldner zugute
kommen sollen. Es erscheine ausgeschlossen, dass der EGMR diesen
Anspruch zugebilligt hätte, wenn anstelle des Schuldners der Insolvenzverwalter
das Verfahren für die Masse hätte aufnehmen und fortführen können. Die
Auszahlung des zuerkannten Betrags an einen Vollstreckungsgläubiger oder die
Masse würde deshalb den Leistungsinhalt grundlegend verändern.
33
(2) Nach § 399 Alt. 1 BGB kann eine Forderung nicht
abgetreten werden, wenn die Leistung an einen anderen als den ursprünglichen
Gläubiger nicht ohne Veränderung ihres Inhalts erfolgen kann. Dies ist unter
anderem dann anzunehmen, wenn ohne Veränderung des Leistungsinhalts die dem
Gläubiger gebührende Leistung mit seiner Person derart verknüpft ist, dass die
Leistung an einen anderen Gläubiger als eine andere Leistung erscheinen würde,
mithin die Identität der Forderung nicht gewahrt bliebe (st.
Rspr.; vgl. nur Senat, Urteil vom 12. November 2015 - III ZR 204/15, BGHZ 207,
365 Rn. 20; BGH, Urteile vom 26. Januar 1994 - XII ZR 93/92, WM 1994, 557, 558;
vom 4. Dezember 2009 - V ZR 9/09, NJW-RR 2010, 1235 Rn. 12 und vom 24. März
2011 aaO Rn. 42; Beschluss vom 22. Mai 2014 - IX ZB 72/12, WM 2014, 1141 Rn.
18). Diese Voraussetzungen liegen hier jedoch nicht vor. Sie ergeben sich für
den Anspruch aus § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG insbesondere nicht aus dem Urteil des
Bundesgerichtshofs vom 24. März 2011 (aaO).
34
(3) Aus dem den Besonderheiten des Anspruchs aus Art. 41
EMRK Rechnung tragenden Abtretungs-, Pfändungs- und Aufrechnungsverbot (§ 399
Alt. 1 BGB in Verbindung mit § 851 Abs. 1 ZPO, § 394 Satz 1 BGB) lässt sich
nicht ableiten, dass Gleiches auch für den anders gelagerten
Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG gilt (siehe auch Senat,
Urteil vom 12. November 2015 aaO Rn. 24 zu der vergleichbaren Problematik bei
dem ebenfalls verschuldensunabhängigen Anspruch auf Schadensersatz nach Art. 5
Abs. 5 EMRK). Denn im Gegensatz zu dem Anspruch nach Art. 41 EMRK - der nicht
von Gesetzes wegen, sondern durch eine konstitutive Ermessensentscheidung des
EGMR entsteht und daher keine Anspruchsgrundlage für den Beschwerdeführer
enthält (BGH, Urteil vom 24. März 2011 aaO Rn. 43) - gewährt § 198 Abs. 1 Satz
1 GVG dem von einer überlangen Verfahrensdauer Betroffenen einen unmittelbaren,
vor den innerstaatlichen Gerichten geltend zu machenden, nationalen Anspruch
auf Entschädigung. Nach deutschem Recht sind aber Ansprüche wegen immaterieller
Schäden - auch soweit es sich um Staatshaftungsansprüche handelt - trotz ihrer
höchstpersönlichen Natur nicht untrennbar mit der Person des Anspruchsinhabers
verbunden, sondern grundsätzlich übertragbar sowie pfändbar, und es kann gegen
sie aufgerechnet werden (st. Rspr.; vgl. nur Senat,
Urteil vom 12. November 2015 aaO Rn. 24 ff; BGH, Urteil vom 24. März 2011 aaO
Rn. 33 ff; Beschluss vom 22. Mai 2014 aaO Rn. 15; siehe auch MüKoBGB/ Oetker,
8. Aufl., § 253 Rn. 66; Palandt/Grüneberg, BGB, 78. Aufl., § 253 Rn. 22;
Staudinger/Schiemann, BGB, Neubearbeitung 2017, § 253 Rn. 48; jeweils mwN).
35
Dieses Ergebnis entspricht auch der in § 198 Abs. 5 Satz 3
GVG zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Wertentscheidung, wonach der
Entschädigungsanspruch gemäß § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG nach rechtskräftiger
Entscheidung über die Klage grundsätzlich übertragbar und pfändbar ist, so dass
gegen ihn aufgerechnet werden kann (siehe dazu im Folgenden unter 2.). Der
Anspruch nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist damit - anders als die Entschädigung
aus Art. 41 EMRK - gerade nicht untrennbar mit der Person des Anspruchsinhabers
verbunden, sondern entsteht von Gesetzes wegen selbst dann, wenn er später
nicht der Person des Anspruchsinhabers persönlich zugute kommt, sondern übertragen, gepfändet oder
gegen ihn aufgerechnet wird.
36
(4) Entgegen der Auffassung des Beklagten tritt der Anspruch
aus § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG auch nicht deshalb an die Stelle des Art. 41 EMRK,
weil mit der gesetzlichen Neuregelung des Entschädigungsanspruchs in § 198 GVG
eine nach der Rechtsprechung des EGMR bestehende Rechtsschutzlücke geschlossen
und eine Regelung geschaffen werden sollte, die sowohl den Anforderungen des
Grundgesetzes (Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG) als auch denen der Konvention
zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Art. 6 Abs. 1, Art. 13 EMRK)
gerecht wird (vgl. Senat, Urteile vom 10. April 2014 - III ZR 335/13, BeckRS
2014, 8780 Rn. 25 und vom 21. Mai 2014 - III ZR 355/13, NJW 2014, 2443 Rn. 14;
BT-Drucks. 17/3802, S. 1, 15; EGMR, NJW 2006, 2389 Rn. 136 ff; EGMR, NJW 2010,
3355 Rn. 59 ff). Hiergegen spricht neben den dargestellten strukturellen
Unterschieden der beiden Regelungen, dass § 198 GVG und Art. 41 EMRK weiterhin
nebeneinander bestehen und auch nach dem Inkrafttreten des ÜGRG
wegen überlanger Verfahrensdauer eine Individualbeschwerde zum EGMR (Art. 34,
Art. 35 Abs. 1 EMRK) - wenn auch erst nach Ausschöpfen des innerstaatlichen
Rechtsbehelfs nach §§ 198 ff GVG - zulässig ist (vgl. Steinbeiß-Winkelmann aaO
Einf. Rn. 383 mwN; EGMR, NVwZ 2013, 47 Rn. 46 ff).
37
c) Soweit das Oberlandesgericht im Umkehrschluss aus dem
Urteil des Senats vom 12. November 2015 (aaO Rn. 17 f) eine Treuwidrigkeit der
Aufrechnung daraus herleiten will, dass die im vorliegenden Fall zur
Aufrechnung gestellte Kostenforderung aus einem vor dem Beginn des Entschädigungsverfahrens
bereits rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren herrührt, vermag sich der
Senat dem nicht anzuschließen. Denn dem Senatsurteil vom 12. November 2015 lag
eine wertende Gesamtbetrachtung aller Umstände zugrunde, in die als
Einzelumstand unter anderem einzubeziehen war, dass die damals zur Aufrechnung
gestellte Kostenforderung aus einem neuen Strafverfahren, in dem erneut Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, resultierte.
Dies rechtfertigt jedoch nicht die Annahme des Oberlandesgerichts, die
Aufrechnung mit einer Kostenforderung aus einem vor dem Entschädigungsverfahren
liegenden Strafverfahren sei grundsätzlich treuwidrig.
38
d) Aus der Eigenart des zwischen den Beteiligten bestehenden
Rechtsverhältnisses ergeben sich im vorliegenden Fall keine Gesichtspunkte, die
es rechtfertigen könnten, die Aufrechnung als Rechtsmissbrauch zu bewerten. Zu
Recht weist die Revision darauf hin, dass das durch das Ausgangsverfahren
begründete, sich nach der jeweiligen Verfahrensordnung richtende Prozessrechtsverhältnis
zwischen dem von einer überlangen Verfahrensdauer Betroffenen und dem Staat
nicht einmal ansatzweise vergleichbar ist mit dem besonderen Rechtsverhältnis
zwischen dem Staat und dem Strafgefangenen, das dem Amtshaftungsanspruch wegen
menschenunwürdiger Haftbedingungen zugrunde liegt. Letzteres ist einerseits
gekennzeichnet durch intensive Eingriffs- und Anweisungsbefugnisse des Staates,
die weit in die persönliche Lebensführung des Gefangenen hineinreichen.
Andererseits werden dem Staat besondere Fürsorgepflichten, insbesondere für
Leben und Gesundheit des Gefangenen, auferlegt. Dabei gehört die Pflicht, den
Häftling menschenwürdig unterzubringen, zu den Kardinalpflichten der
Justizvollzugsorgane (Senat, Urteil vom 1. Oktober 2009 - III ZR 18/09, BGHZ
182, 301 Rn. 14). Vergleichbare Einwirkungsmöglichkeiten und Fürsorgepflichten
des Staates gegenüber dem Beklagten bestanden in dem vollstreckungsrechtlichen
Zivilverfahren, welches das Oberlandesgericht für unangemessen verzögert
erachtet hat, von vornherein nicht.
39
2. Die Aufrechnung des klagenden Landes mit dem
festgestellten Kostenerstattungsanspruch aus dem früheren Strafverfahren gegen
den Beklagten scheitert auch nicht an der Regelung des § 394 Satz 1 BGB in
Verbindung mit § 851 Abs. 1 ZPO, § 198 Abs. 5 Satz 3 GVG. Denn die dem
Beklagten zugesprochene Entschädigung nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist
übertragbar und pfändbar, so dass kein Aufrechnungsverbot besteht.
40
a) Nach § 851 Abs. 1 ZPO ist eine Forderung in Ermangelung
besonderer Vorschriften der Pfändung nur insoweit unterworfen, als sie
übertragbar ist. § 198 Abs. 5 Satz 3 GVG bestimmt, dass der
Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG bis zur rechtskräftigen
Entscheidung über die Klage nicht übertragbar ist. Da der
Entschädigungsanspruch des Beklagten durch Urteil des Oberlandesgerichts K. vom
12. Januar 2018 rechtskräftig (mit Ablauf der Frist für die Einlegung der
Nichtzulassungsbeschwerde am 12. März 2018) festgestellt wurde, war er
anschließend und damit zum Zeitpunkt der Aufrechnungserklärungen des Klägers im
April und Mai 2018 übertragbar.
41
b) Dem abweichenden Verständnis des Oberlandesgerichts,
wonach § 198 Abs. 5 Satz 3 GVG keine Regelung zur Übertragbarkeit des Anspruchs
für den Zeitraum nach Beendigung des Verfahrens treffe, stehen sowohl der
Wortlaut und die Entstehungsgeschichte der Norm wie auch der Gesetzeszweck
entgegen.
42
aa) Nach dem klaren Wortlaut des § 198 Abs. 5 Satz 3 GVG,
der mit der eine vergleichbare Problematik betreffenden Regelung des § 13 Abs.
2 StrEG nahezu wörtlich übereinstimmt, ist die Übertragbarkeit des
Entschädigungsanspruchs aus § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG bis zur rechtskräftigen
Entscheidung über die Klage ausgeschlossen. Damit wird (e contrario) zugleich
zum Ausdruck gebracht, dass mit Eintritt der Rechtskraft des
Entschädigungsurteils die Übertragbarkeit gegeben ist und folglich die Pfändung
(siehe § 851 Abs. 1 ZPO) sowie die Aufrechnung gegen den Anspruch (siehe § 394
Satz 1 BGB) grundsätzlich möglich sind (vgl. nur Marx in Marx/Roderfeld, Rechtsschutz bei überlangen Gerichts- und
Ermittlungsverfahren, § 198 Rn. 184; Ott aaO § 198 Rn. 264, 266). Dies
entspricht der gesetzgeberischen Wertentscheidung, die zur Aufhebung von § 847
Abs. 1 Satz 2 BGB a.F. geführt hat, der noch die Einschränkung enthielt, dass
Ansprüche auf Ersatz immaterieller Schäden nicht übertragbar und vererblich
waren, es sei denn, sie waren durch Vertrag anerkannt oder rechtshängig gemacht
worden. § 847 Abs. 1 Satz 2 BGB a.F. ist durch Art. 1 des Gesetzes zur Änderung
des Bürgerlichen Gesetzbuchs und anderer Gesetze vom 14. März 1990 (BGBl. I
478) gestrichen worden. Der Anspruch auf Ersatz immaterieller Schäden sollte
trotz seiner „höchstpersönlichen Natur“ in vollem Umfang frei übertragbar und
pfändbar sowie die Aufrechnung gegen ihn möglich sein (Senat, Urteil vom 12.
November 2015 - III ZR 204/15, BGHZ 207, 365 Rn. 25 f; Begründung zum Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs und anderer Gesetze,
BT-Drucks. 11/4415, S. 4; Bericht des Rechtsausschusses vom 20. Oktober 1989,
BT-Drucks. 11/5423, S. 4).
43
bb) Dieses Normverständnis des § 198 Abs. 5 Satz 3 GVG
entspricht auch der gesetzgeberischen Wertung, die nach allgemeiner Auffassung
dem nahezu wortgleichen § 13 Abs. 2 StrEG zugrunde liegt. Danach besteht für
den Anspruch auf Entschädigung, der im Fall der Freiheitsentziehung auf Grund
gerichtlicher Entscheidung auch den Nichtvermögensschaden umfasst (§ 7 Abs. 1
Halbsatz 2, Abs. 3 StrEG), lediglich die Einschränkung, dass dieser bis zur
rechtskräftigen Entscheidung über den Entschädigungsantrag nicht übertragbar
ist. Der Gesetzgeber hat mit § 13 Abs. 2 StrEG - ungeachtet der im
Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drucks. VI/460, S. 9) erfolgten
Bezeichnung des Entschädigungsanspruchs als „persönlichkeitsgebunden“ - nur eine
zeitliche Beschränkung der Übertragbarkeit zum Schutz der Strafrechtspflege
vornehmen und die Übertragbarkeit nicht ausschließen wollen (vgl. Senat, Urteil
vom 12. November 2015 aaO Rn. 28; BT-Protokolle, 6. Wahlperiode, 84. Sitzung
vom 9. Dezember 1970, S. 4707 f). Ab Rechtskraft der Entscheidung über den
Entschädigungsanspruch (gleichgestellt: Anerkenntnis, Vergleich oder
zusprechende Entscheidung der Landesjustizverwaltung durch unanfechtbaren
Bescheid nach § 10 Abs. 2 StrEG) kann die Staatskasse wegen ihrer Ansprüche
(z.B. Geldstrafe, Kosten, Wertersatz) aufrechnen (Senat, Urteil vom 12.
November 2015 aaO Rn. 27 f; Kunz, StrEG, 4. Aufl., § 13 Rn. 12; Meyer, StrEG,
10. Aufl., § 13 Rn. 20 f; MeyerGoßner/Schmitt, StPO,
62. Aufl., § 13 StrEG Rn. 2; MüKoStPO/Kunz, § 13
StrEG Rn. 16 f; jew. mwN).
44
cc) Für die Übertragbarkeit der Entschädigungsforderung nach
rechtskräftiger Entscheidung spricht auch die Entstehungsgeschichte von § 198
Abs. 5 Satz 3 GVG. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 17. November 2010
sah hinsichtlich der Übertragbarkeit und Pfändbarkeit des Anspruchs aus § 198
Abs. 1 Satz 1 GVG keine Einschränkungen vor (BT-Drucks. 17/3802, S. 7 f, 22).
Dem Vorschlag des Bundesrats im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens, eine
Übertragbarkeit - und damit gemäß § 851 Abs. 1 ZPO eine Pfändbarkeit - der
Entschädigungsforderung solle ebenso wie im Fall des § 13 Abs. 2 StrEG
ausgeschlossen sein, solange nicht rechtskräftig über die Entschädigungsklage
entschieden sei, um einen der Rechtspflege abträglichen Handel mit dem Anspruch
zu verhindern (BT-Drucks. 17/3802, S. 36 unter Hinweis auf BT-Protokolle, 6.
Wahlperiode, 84. Sitzung vom 9. Dezember 1970, S. 4706 bis 4708; OLG Hamm, NJW
1975, 2075; LG Stuttgart, MDR 1980, 590), hat die Bundesregierung in ihrer
Gegenäußerung ausdrücklich zugestimmt (BT-Drucks. aaO S. 42). Der
Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags hat sodann den Vorschlag des
Bundesrats unter Bezugnahme auf dessen Stellungnahme und die Gegenäußerung der
Bundesregierung unverändert durch Ergänzung des § 198 Abs. 5 GVG um den
jetzigen Satz 3 aufgegriffen (Beschlussempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses vom 28. September 2011, BT-Drucks. 17/7217, S. 6 f, 28). Der
Wille des Gesetzgebers, dass die Vorschrift des § 198 Abs. 5 Satz 3 GVG in
gleicher Weise wie § 13 Abs. 2 StrEG zu verstehen ist, ist somit eindeutig
dokumentiert.
45
dd)Der Gesetzeszweck des § 198 Abs.
5 Satz 3 GVG, wie er sich aus den Gesetzesmaterialien erschließt, erschöpft
sich somit darin, einen der Rechtspflege abträglichen Handel mit dem Anspruch
zu verhindern, solange nicht rechtskräftig über die Entschädigungsklage
entschieden ist. Auf diese Weise soll einem finanziellen Interesse Dritter am
Ergebnis des Ausgangs- und des Entschädigungsverfahrens entgegengewirkt werden.
Dieser Schutzzweck verliert mit Rechtskraft der Entscheidung über den
Entschädigungsanspruch seine Bedeutung, so dass der Entschädigungsanspruch ab
diesem Zeitpunkt frei übertragbar ist (vgl. Marx aaO § 198 GVG Rn. 183 f; Ott
aaO § 198 GVG Rn. 264).
III.
46
Das angefochtene Urteil ist demnach aufzuheben (§ 562 Abs. 1
ZPO) und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das
Oberlandesgericht zurückzuverweisen, weil sie nicht zur Endentscheidung reif
ist (§ 563 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 ZPO).
47
Der Beklagte hat gegen den zur Aufrechnung gestellten
Kostenerstattungsanspruch auch die Verjährungseinrede erhoben. Dazu hat das
Oberlandesgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - bislang
keine Feststellungen getroffen.
48
Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 GKG verjähren Ansprüche auf Zahlung
von Kosten in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem das Verfahren
durch rechtskräftige Entscheidung über die Kosten - hier durch Rechtskraft des
Strafurteils am 10. Januar 2013 - beendet ist. Danach wäre im vorliegenden Fall
Verjährung mit Ablauf des 31. Dezember 2017 und damit zu einem Zeitpunkt
eingetreten, zu dem noch keine Aufrechnungslage bestanden hat, da das aus § 394
Satz 1 BGB, § 851 Abs. 1 ZPO, § 198 Abs. 5 Satz 3 GVG folgende
Aufrechnungsverbot erst mit Rechtskraft des Urteils vom 12. Januar 2018 über
die Entschädigungsklage weggefallen ist. Nach § 215 BGB kann jedoch mit einer
verjährten Gegenforderung nur aufgerechnet werden, soweit diese bei Eintritt
der Aufrechnungslage noch unverjährt war. Allerdings
könnte die Verjährung durch die Zahlungsaufforderung der Landesoberkasse mit
Kostenrechnung vom 24. August 2016 neu begonnen haben (§ 5 Abs. 3 Satz 2 GKG).
Hierzu muss die Kostenrechnung dem Beklagten zugegangen sein (vgl. OLG Koblenz,
NStZ-RR 2005, 254, 255 und BeckRS 2011, 6657; BeckOK KostR/Dörndorfer, § 5 GKG Rn. 8 [Stand: 1. September 2019];
Toussaint in Hartmann/Toussaint, Kostenrecht, 49. Aufl., GKG, § 5 Rn. 8), was
dieser bestritten hat und deshalb noch aufgeklärt werden muss.
49
Auf den Umstand, dass der Beklagte selbst mit Schriftsatz vom 23. Mai 2018 mit behaupteten Amtshaftungsansprüchen hilfsweise die Aufrechnung gegen die Kostenerstattungsforderung des Klägers erklärt hat, kommt es nicht an. Greift die Einrede der Verjährung durch, muss über die Hilfsaufrechnung mangels Bedingungseintritts nicht mehr entschieden werden. Bleibt die Einrede erfolglos, ist die Kostenforderung durch die zeitlich frühere Aufrechnung des Klägers gegen die Entschädigungsforderung in dieser Höhe gemäß § 389 BGB (ggf. i.V.m. § 406 BGB) erloschen, so dass die zeitlich spätere Aufrechnung des Beklagten insoweit ins Leere ging (vgl. BGH, Versäumnisurteil vom 10. April 2008 - VII ZR 58/07, NJW 2008, 2429 Rn. 17; BeckOGK/Skamel, BGB, § 389 Rn. 7 [Stand: 1. Oktober 2019] mwN). Sie kann sich daher nur noch gegen die nach der Aufrechnung verbleibende - nicht streitgegenständliche - Kostenforderung des Klägers richten.